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Ständige Judikatur, eine vordemokratischen Zeiten zugewandte Rechtsprechung
Wahlaufhebung

Ständige Judikatur, eine vordemokratischen Zeiten zugewandte Rechtsprechung

Ständige Judikatur, eine vordemokratischen Zeiten zugewandte Rechtsprechung

Nach der Entscheidung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs, die Stichwahl der Wahl zum Bundespräsidenten zu wiederholen, erklärte der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs Ludwig Adamovic: „Angesichts der Vorjudikatur war das Resultat für die Bundespräsidenten­wahl für Exper­ten prognostizierbar.“

Ständige Judikatur und staatliche Kinderförderung

Mir fiel sofort das Kinderkostenerkenntnis der Verfassungsrichter vom 9. 12. 1991 ein. Die Entscheidung, dass besser Verdienende stärker vom Staat geför­dert werden müssen, weil sie für ihre Kinder mehr ausgeben als die unteren Einkommensbezieher, begründete Adamovic als damaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofes so: „Das ist ein Grundsatz des bürgerlichen Rechtes, der in der Judikatur der Zivilgerichte auch zum Ausdruck kommt.“ Die Vorjudikatur ist auch in diesem Fall entscheidend.

Im Familienkostener­kenntnis vom 27. Juli 1996 wurde diese Judikatur folgend erläutert: Gleiches wird gleich, Ungleiches wird unterschiedlich behandelt; unterschiedlich hohe Einkommen der Eltern erfordern eine unterschiedliche Förderung. Bei der Beurteilung der notwendigen Höhe der Familienförderung müssen die bürgerliche Unterhalts­pflicht und die Unversehrtheit des Eigentums Leitlinien der Familien­förderung sein. Eltern im höheren Einkommensbereich geben für ihre Kinder mehr aus als die Familienbeihilfe ausmacht; sie sind daher finanziell stärker belastet als Eltern im unteren Einkommensbereich; bei letzteren deckt die Familienbeihilfe die Ausgaben für die Kinder.  Diese Judikatur war/ist gegen die Auffassung ge­richtet, dass dem Staat jedes Kind gleich viel wert ist; eine Auffassung, die in den 1970er Jahren in der Regierung Kreisky–Androsch zur Umwandlung der privatrecht­lich­-bürgerlichen, am Unterhaltsrecht orientierten steuerlichen Förderung der Familie zur Kind bezogenen Familienbeihilfe führte.

Diese Erkenntnisse auf der Grundlage von Regelungen des ABGB aus dem Jahr 1812 stärken bis heute die Forderung von ÖVP und FPÖ vor Nationalrats­wahlen nach steuerlicher Familien­förderung entsprechend dem bürgerlichen Unterhalts- und Eherecht; steuerliche Familienförderung benachteiligt  die Kinder von Eltern im unteren Einkommensbereich bzw. begünstigt finanziell besser gestellte Familien.

Ständige Judikatur und Wahlrechtsverletzungen

Der geltende Art. 141 Abs. 1 B-VG lautet: „Der Verfassungsgerichtshof hat einer Anfechtung stattzugeben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war.“

Die Verfassungsrichter haben nicht geprüft, ob die Gesetzesverletzungen das Ergebnis der Wahl beeinflusst haben. Sie haben vielmehr auf den Gesetzes­text und die Judikatur der I. Republik im Jahr 1927 zurückgegriffen.  Damals war die junge Republik von massiven Interessenkonflik­ten geprägt. Zwei Tote in Schattendorf auf Seiten der Sozialdemokraten, der Prozess mit Freispruch, der Brand des Justizpalastes, sowie die vielen Toten und Verletzten danach, besonders auf Seiten der Arbeiter, zeugen von den explosiven Auseinander­setzungen. Ein Teil der Christlichsozialen war überhaupt gegen die Republik. Dass 1927 die bloße Möglichkeit einer Manipulation als ausreichend für eine Wahlaufhebung angesehen wurde, entsprach der politischen Situation und fehlenden Wahlbeisitzern der Sozialdemokraten.  

Wechselseitiges Vertrauen der Wahlbeisitzer

Die Festigung der demokratischen Republik nach dem 2. Weltkrieg führte in den 1960er Jahren zur oben zitierten Fassung des zitierten Art. 141 Abs. 1 B-VG. Vertreterinnen und Vertreter aller Parteien bekennen sich nun zur demokratischen Republik, stellen Wahlbeisitzer und akzeptieren Wahl­ergebnisse. Getragen vom wechselseitigen Vertrauen der Wahlbeisitzer machte sich jedoch ein unverzeihlicher Schlendrian breit; nicht gesetzeskonforme Vorgehensweisen bei der Auszählung nicht nur der Briefwahlkarten wurden ohne schlechtes Gewissen von Wahlbeisitzern aller Parteien toleriert. So haben auch Funktionäre der FPÖ bei der Stichwahl in den beanstandeten Bezirken die Rechtmäßigkeit des Protokolls über die Auszählung der Briefwahlstimmen unterschrieben. In Kärnten betrifft dies z. B. zwei Landtagsabgeordnete der FPÖ – Herrn Trettenbrein  (Wolfsberg) und Herrn Zellot (Villach). Nach der Ankündigung des unterlegenen FPÖ-Kandidaten, es könne eventuell eine Wahlanfechtung wegen Manipulation bei der Briefwahl geben, zogen einige FPÖ-Wahlbeisitzer ihre Bestätigung der rechtmäßigen Durchführung zurück. - Die Verfassungsrichter betonen in ihrem Spruch, dass keiner der einvernommenen Zeugen Anhaltspunkte für tatsächliche Manipulationen wahrgenommen hat.

Erfahrene Wahlbeisitzer erzäh­len übereinstimmend, dass es von den verschiedenen Ebenen der Zu­ständigkeit, immer wieder die Mahnung zur Eile bei der Auszählung gegeben hat. Außerdem gibt es rechtliche Festlegungen im Briefwahlrecht, die sich mit der gewünschten ra­schen Durchführung kaum vereinbaren lassen; etwa die Be­stimmung, der Wahlleiter müsse die Kuverts persönlich öffnen, auch in Bezirken mit mehreren tausend Wahlkarten. Politisch Interessierte bis hin zu den Verantwortlichen im Innenministerium und zu den Höchstrichtern wuss­­ten das. Wie uninteressiert Regelverletzungen von den über die Gesetzeslage Informierten  hingenommen wurden, zeigt folgende Beispiel: Laut Gesetz müssten angeblich die Wahlleiter die Kuverts in die Wahlurne werfen; im Fernsehen wurden wiederholt prominente Politiker und Spitzenkandidaten beim Einwerfen ihres Kuverts gezeigt.

Unverständlich für mich ist, dass niemand die genaue Einhaltung der Rechtsvorschriften oder eine Änderung derselben gefordert hat. – Kein Vertreter des Innenministeriums, kein Verfassungsrichter, obwohl letztere erklären: “Wahlen sind das Fundament unserer Demokratie. Es ist die vornehmste Pflicht des Verfassungsgerichtshofes , dieses Fundament funktionstüchtig zu erhalten.“ Aber für die Verfassungsrichter gilt offensichtlich auch bei dieser „Pflicht“: Wo kein Kläger, da kein Richter.

Dazu kommt, dass OSZE-Wahlbeobachter (OSZE: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), die bei der Bundespräsidenten­wahl 2010 vom Innenministerium eingeladen worden waren, laut einem langjährigen Wahlbeobachter und Wahlrechtsexperten der OSZE in ihrem Bericht Anmerkungen zur Finanzierung und zu den Wahlkarten gemacht haben (s. 19. 7. 16, Ö1, Von Tag zu Tag).

Hüter des demokratischen Rechtsstaates?

Einleitend zur Entscheidung des VfGH den zweiten Wahlgang der Bundespräsidenten­wahl in ganz Österreich zu wiederholen, heißt es: dies soll „allein einem Ziel dienen: das Vertrauen in unseren Rechtsstaat und in unsere Demokratie stär­ken.“

Mir scheint, dass die Entscheidung der Wahlaufhebung dem Ziel, den demokratischen Rechtsstaat zu stärken, nicht gerecht wird. Es wird vor allem die sogenannte ständige Judikatur gefestigt. Die heute gültige Textierung des Gesetzes und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden nicht berück­sichtigt. Stattdessen wird die 1927 zweifellos angemessene Fassung und Judikatur des Paragraphen, der die Frage der Manipulation regelt, zum „ewigen“ Maßstab erhoben.

Unparteiische Argumentation?

Angesichts der Feststellung, dass keiner der Befragten eine Manipulation behauptet hat, ist gelinde gesagt folgende Begründung im Spruch der Verfassungsrichter eigenartig: „In 14 von 20 Bezirken habe man Unregel­mäßigkeiten entdeckt. Das beträfe insgesamt 77.926 Briefwahlstimmen, also mehr als das doppelte des Abstands zwischen Alexander van der Bellen und Norbert Hofer (30.863 Stimmen).“

Diese Aussage kann nur heißen: Die Verfassungsrichter und Verfassungs­richterinnen sind der Meinung, dass ein Nachweis einer Manipulation entgegen dem geltendem Recht nicht erforderlich ist, da eine solche „grundsätzlich“ immer möglich ist. Da für Rechtsexperten, die auch die ständige Judikatur kennen, Entscheidungen des VfGH  vorhersehbar sind, führt dies dazu, dass solche Experten die „Unbeweglichkeit“ der obersten Richter durch die ständige Rechtssprechung zugunsten ihrer Mandanten nützen können. Dr. Böhmdorfer, Justizminister a.D. (FPÖ), tat dies zu Gunsten von FPÖ-Obmann Strache. Als Rechtsberater Haiders ist Dr. Böhmdorfer meines Wissens nicht den demokratische Rechtsstaat einmahnend in Er­scheinung getreten, als Haider gleichsam zur Verhöhnung des Verfassungsge­richts­­­ho­fs Ortstafeln verrückte und gesetzeswidrige kleine slowenisch sprachige Ortstafeln anbrachte.

VfGH-Gesetz ändern

Oft wird übersehen, dass nach großen gesellschaftlichen Veränderungen, nach Revolutionen, bei anschließenden Gesetzesänderungen, wie beim Übergang von der Monarchie zur Republik, manche Bestimmungen aus den Gesetzen des vorherigen Gesellschaftssystems übernommen werden. (Beim Ehe- und Familien­­recht konnten sich Christlichsoziale, unterstützt durch die Katholische Kirche, und die Sozialdemokraten in ihrer kurzen gemeinsamen Regierungzeit nicht auf eine Neufassung einigen). [1] Außerdem entwickeln Menschen im Aufwachsen Denkmuster, die den geltenden Institutionen und den mit ihnen verbundenen Werten entsprechen. In den durch Erfahrungen im Gehirn entstandenen Strukturen bleiben diese Denkmuster vor allem bei an Politik nicht interessierten Menschen (zunächst) wirksam. Dieser Sachverhalt erklärt zum Teil das Scheitern mancher Revolutionen.

Gesellschaftliche Eliten sind unter Umständen am Weiterbestehen über­wunden geglaubter, nicht demokratischer Regelungen/Theorien inter­essiert. Die Frage, welcher Bevölkerungsgruppe getroffene Festlegungen nutzen bzw. schaden, muss auch bei wissenschaftlichen Urteilen gestellt werden. [2] Auch im Falle der sogenannten „ständigen Judikatur“ durch die Verfassungsrichter. Beim Kinderkostenerkenntnis werden alle Bezieher hoher Einkommen begünstigt, durch das Erkenntnis zur Wahl­wiederholung im Sinne der ständigen Judikatur kann das rechtliche Expertenwissen exklusiv als Vorteil wirksam werden.

Die Aufgaben des Verfassungsgerichtes sollten daher besser den Werten des demokratischen Rechtstaates entsprechend neu formuliert werden. So sollte bei VfGH-Erkenntnissen das abweichende Votum eingeführt werden. Von Mitgliedern des VfGH, die ihr Amt bis zum 70. Lebensjahr fix gesichert haben, kann erwartet werden, dass alle Verfassungsrichter und Verfassungsrichterinnen ihre Argumente öffentlich darlegen, unabhängig davon, ob sie die Mehrheits- oder eine Minderheitsmeinung vertreten. Ein Minderheitsvotum würde verdeutlichen, dass auch die Entscheidungen des VfGH nicht die absolute Wahrheit und Gerechtigkeit fern von gesellschafts­politischen Interessen darstellen, sondern dass auch Spitzenexperten des Rechts unterschiedliche Sichtweisen vertreten.

Wenn es die vornehmste Pflicht des Verfassungsgerichtshofes ist, Wahlen als Fundament unserer Demokratie funktionstüchtig zu erhalten, muss dies als Auftrag gesetzlich so verankert werden, dass beobachtete Fehlentwicklungen – wie nicht oder schwer umsetzbare Regelungen des Wahlrechts oder Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung einer Wahl – sofort aufgezeigt und Änderungen öffentlich gefordert werden. Der Grundsatz „Wo kein Kläger, da kein Richter“ greift beim Fundament unserer Demokratie zu kurz.

(Falter, nicht erschienen)

[1] S. Recht – Familie – Ehe, in Zukunft, Heft 9, 2015 bzw. www.hieden-sommer.at
[2] S. Wissenschafter als geheime Politiker, in Zukunft, Heft 12, 2015 bzw. www.hieden-sommer.at

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