Ständige Judikatur und Wahlwiederholung
Nach der Wahlaufhebung der Stichwahl, erklärte der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs Ludwig Adamovic: „Angesichts der Vorjudikatur war das Resultat für die Stichwahl für Experten prognostizierbar.“ Auf die Frage, warum nicht die gesamte Bundespräsidentenwahl wiederholt werden müsse, meinte er: „Wo kein Kläger, da kein Richter.“
Der geltende Art. 141 Abs. 1 B-VG lautet: „Der Verfassungsgerichtshof hat einer Anfechtung stattzugeben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war.“
Die Verfassungsrichter haben nicht geprüft, ob die Gesetzesverletzungen das Ergebnis der Wahl beeinflusst haben. Stattdessen haben sie die für 1927 zweifellos angemessene Fassung und Judikatur des Paragraphen, der die theoretische Möglichkeit einer Manipulation als ausreichend für eine Wahlaufhebung definiert, durch die „ständige“ Judikatur zum „ewigen“ Maßstab erhoben. 1927 war die junge Republik von Interessenkonflikten mit Toten geprägt; Wahlbeisitzer aller Parteien gab es nicht.
Stichwahl
Angesichts des bestehenden wechselseitigen Vertrauens haben auch in den beanstandeten Bezirken alle Wahlbeisitzer der FPÖ bei der Stichwahl zunächst die Rechtmäßigkeit des Protokolls unterschrieben. Die Verfassungsrichter betonen in ihrem Spruch, dass keiner der einvernommenen Zeugen Anhaltspunkte für tatsächliche Manipulationen wahrgenommen hat.
Manche Bestimmungen – wie: der Wahlleiter müsse die Kuverts persönlich in die Urne geben – waren wahrscheinlich den meisten Wählern und manchen Beisitzern nicht bekannt. Im Fernsehen wurden wiederholt prominente Politiker und Spitzenkandidaten beim Einwerfen ihres Kuverts gezeigt. Die Verantwortlichen im Innenministerium bis hin zum Minister und die Höchstrichter kennen – wie anzunehmen ist - die Gesetze. Sie forderten wie in vorangegangenen Wahlen nicht die genaue Einhaltung der Rechtsvorschriften oder eine Änderung derselben.
Verfassungsrichter erklären in der Wahlaufhebung: “Wahlen sind das Fundament unserer Demokratie. Es ist die vornehmste Pflicht des Verfassungsgerichtshofes, dieses Fundament funktionstüchtig zu erhalten.“ Aber für die Verfassungsrichter gilt offensichtlich auch bei dieser „Pflicht“: Wo kein Kläger, da kein Richter.
Für Rechtsexperten, die auch die „ständige“ Judikatur kennen, sind Entscheidungen des VfGH vorhersehbar. Solche Experten können daher die „ständige“ Rechtssprechung der Verfassungsrichter zu Gunsten ihrer Mandanten nützen. Dr. Böhmdorfer, Justizminister a.D. (FPÖ), tat dies zu Gunsten von FPÖ-Obmann Strache und Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer. Als Rechtsberater Haiders ist Dr. Böhmdorfer meines Wissens nicht den demokratische Rechtsstaat einmahnend in Erscheinung getreten, als Haider gleichsam zur Verhöhnung des Verfassungsgerichtshofs Ortstafeln verrückte und gesetzeswidrige kleine slowenisch sprachige Ortstafeln anbrachte.
VfGH-Gesetz ändern
Gesellschaftliche Eliten sind unter Umständen am Weiterbestehen überwunden geglaubter, nicht demokratischer Regelungen/Theorien interessiert. Die Frage, welcher Bevölkerungsgruppe getroffene Festlegungen nutzen bzw. schaden, muss auch bei wirtschafts- und rechtwissenschaftlichen Urteilen gestellt werden. Auch im Falle der sogenannten „ständigen Judikatur“ der Verfassungsrichter. Das Erkenntnis zur Wahlwiederholung fußend auf der „ständigen Judikatur“ macht rechtliches Expertenwissen exklusiv als Vorteil in der Rechtsprechung möglich. Ein Argument im Urteil lautet: In 14 von 20 Bezirken habe man Unregelmäßigkeiten entdeckt. Das beträfe insgesamt 77.926 Briefwahlstimmen, also mehr als das doppelte des Abstands zwischen Alexander van der Bellen und Norbert Hofer (30.863 Stimmen). Wird hier van der Bellen als „Gewinner der Unregelmäßigkeiten“ angedeutet?
Die gesetzlichen Aufgaben des Verfassungsgerichtes sollten besser den Werten des demokratischen Rechtstaates entsprechend neu formuliert werden. So sollte bei VfGH-Erkenntnissen das abweichende Votum eingeführt werden. Ein Minderheitsvotum würde verdeutlichen, dass auch die Entscheidungen des VfGH nicht die absolute Wahrheit und Gerechtigkeit fern von gesellschaftspolitischen Interessen darstellen, sondern dass auch Spitzenexperten des Rechts unterschiedliche Sichtweisen vertreten.
Wenn es „die vornehmste Pflicht des Verfassungsgerichtshofes ist, Wahlen als Fundament unserer Demokratie funktionstüchtig zu erhalten“, muss dies als Auftrag gesetzlich so verankert werden, dass beobachtete Fehlentwicklungen – wie nicht oder schwer umsetzbare Regelungen des Wahlrechts oder Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung einer Wahl – sofort aufgezeigt und Änderungen öffentlich gefordert werden. Der Grundsatz „Wo kein Kläger, da kein Richter“ greift beim Fundament unserer Demokratie zu kurz.
(Die Presse, Der Standard, Kleine Zeitung nicht erschienen)